Die Traumtagebücher der Christine Mylius (1913–1982)
Die Traumtagebücher der Christine Mylius (1913–1982)
Theater Freiburg
Denis Larisch
In Freiburg startete 1953 ein bis heute einmaliges Projekt: Die Schauspielerin Christine Mylius stellte dem Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) ihr Traumtagebuch zur Verfügung. Auf dessen Grundlage sollte erforscht werden, ob sich ihre Träume erfüllten.
Mylius wurde 1913 in München geboren, wo sie Mitte der 1930er-Jahre die Schauspielschule besuchte. Zunächst am Bayerischen Staatstheater München angestellt, kam sie 1941 aufgrund eines Engagements nach Freiburg. Bis zur Bombardierung der Stadt am 27. November 1944 lebte sie in der Bismarckstraße 157 und spielte am Stadttheater. Danach zog sie mit ihrer Familie nach Hamburg, wo sie 1982 infolge einer Krebserkrankung verstarb.
Seit ihrer Kindheit träumte Mylius viel und intensiv. Ihre Träume sah sie als „Stoffwechsel der Seele“. Ein Teil der Träume schien sich zu erfüllen und erweckte den Eindruck präkognitiv, das heißt vorausschauend, zu sein. Besonders zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Mylius auf diese Fähigkeit aufmerksam. Es hatte den Anschein, dass ihre bedrückenden Träume immer wieder zu wahren Prognosen wurden und sich erfüllten. Von da an notierte sie ihre Träume in einem Traumtagebuch und versah sie mit entsprechenden Notizen. Als Mylius für ein Theaterengagement im Frühjahr 1953 erneut in Freiburg war, nahm sie Kontakt mit dem Parapsychologen Hans Bender auf und sie wagten ein gemeinsames Experiment: In regelmäßigen Abständen schickte Mylius ihr Material an das IGPP zur Sicherung und Kontrolle.
Im Zeitraum von 30 Jahren sammelten sich bis zu Mylius’ Tod mehr als 3.000 Träume im Institut an. Etwas mehr als die Hälfte davon wurde wissenschaftlich aufgearbeitet. Einen Versuch, die Qualität des Traummaterials zu klassifizieren, unternahm 1987 die Psychologin Friederike Schriever. Sie unterschied zwischen „nicht bestätigten Träumen“ (ohne erkennbare Übereinstimmung zwischen Traum und Wirklichkeit), „gut bestätigten“ sowie „sehr gut bestätigten Träumen“, in denen das Traumthema später tatsächlich aufgetreten war.
Als „gut bestätigte Träume“ gilt eine Serie von zwölf Träumen, die später als „Fall Gotenhafen“ oder als „Gotenhafen-Träume“ bekannt wurde. Diese wurden von Hans Bender und seinem Mitarbeiter Johannes Mischo (1930–2001) im Jahre 1960/61 gesondert dokumentiert und analysiert. Die zwölf Träume ereigneten sich zwischen August 1954 und Mai 1959. Die Bestätigungen bezogen sich auf den im Herbst 1959 gedrehten Film Nacht fiel über Gotenhafen, in dem Mylius in einer kleinen Nebenrolle spielte. Der Film handelt von der Katastrophe des Kreuzfahrtschiffes „Wilhelm Gustloff“, das nach Beschuss durch ein sowjetisches U-Boot am 30. Januar 1945 mit etwa 9000 Menschen an Bord gesunken war. Das Drehbuch dazu entstand im Frühjahr/Sommer 1959 und die Rollenbesetzung fand ebenfalls zu dieser Zeit statt. Mylius’ Träume waren also deutlich davor. Sie speisten sich nicht aus dem Wissen um das Drehbuch und ihre Rolle im Film. Vielmehr befanden sich die aufgezeichneten Träume zu diesem Zeitpunkt bereits im IGPP. Als Bestätigungselemente bzw. „Zeugen“ für ihre Träume gelten im „Fall Gotenhafen“ der Film, die Aussagen von Beteiligten sowie eine Reihe von Fotos, die Parallelen zu ihren Träumen aufzeigen.
Ein Beispiel: Zum Traum Nr. 877 vom 5. Januar 1959 schrieb Mylius: „Ich schlage vor, zu Sport-Münzinger zu gehen und Asbest-Anzüge zu kaufen und dabei immer zu erwähnen, daß wir noch einen für den Mondseekrater brauchen. Wir lachen uns darüber schief. Eva H., die Malerin, ist auch dabei. Sie hat ein Bild oder eine Plastik von einer Frau und auch eine Art Kratersee, der mit einer weißen, kalkigen Masse ausgefüllt ist. Sie kratzt es weg, und es kommt Zinn unten heraus, was für diesen Zweck viel besser hält.“
Für diesen Traum fanden sich bei der Analyse verschiedene Parallelen: Beim Dreh trugen einige Schauspieler und Schauspielerinnen und so auch Mylius Neoprenanzüge, moderne Taucheranzüge aus Kunststoff, die nur mit Hilfe von Talkum angezogen werden konnten. Als Belege galten Fotos, welche die Schauspieler in diesen Anzügen zeigen. Hiermit konnten, so die Interpretation Benders, sowohl das Motiv der „Asbest-Anzüge“ und die „Seen-Metapher“ als auch die „weiße, kalkige Masse“, die im Traum vorkam, bestätigt werden.
Ein anderer Beleg bezog sich auf die im Traum erwähnte Eva H., eine Hamburger Malerin und Freundin von Mylius. In ihrem Atelier hatte Mylius das Bild von einer Frau mit offenem Haar im schwarzen Anzug gesehen, das in ihren Traum einfloss. Bild und Traum hatten wiederum eine starke Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Evelyn A., die ebenfalls im Film mitspielte und in einer Szene einen (schwarzen) Taucheranzug trug. Die Übereinstimmungen und Parallelen erschienen Bender und Mischo signifikant – teilweise bildeten sie die spätere Realität bruchstückhaft ab, teilweise war sie in Anspielungen oder symbolischen Bildern verschlüsselt.
von Anton Weber
Bender, Hans/Mischo, Johannes: „Praekognition“ in Traumserien (I/II), in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 4 (1960/61), S. 114–196, und 5 (1961/62), S. 10–47.
Mylius, Christine: Traumjournal. Experiment mit der Zukunft, hrsg. von Hans Bender, Frankfurt am Main 1974.
Schriever, Friederike: Ein 30jähriges Experiment mit der Zukunft. Evaluation einer Einzelfallstudie des Freiburger Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 30 (1988), S. 99–132.