Laienheilkundige in Freiburg 1900 bis 1945
Laienheilkundige in Freiburg 1900 bis 1945
Turnseestraße 55 (Praxis des ersten Freiburger Magnetopathen Johann Kohler)
Reinhard Nürnberg
Der Freiburger Naturheilkundler Curt W. Warlies (1879–1962; von 1924 bis 1943 in der Sickingenstraße 11) wurde von seinem Dienstmädchen „Herr Doktor“ genannt und deshalb der „mittelbaren, unzulässigen Titelführung“ beschuldigt. In einer Verteidigungsschrift erklärte er 1926, dass er gar kein Interesse daran habe, seinen Namen mit einem Doktortitel zu schmücken und sich als Arzt auszugeben. Im Gegenteil grenzte er sich entschieden vom „Medizinismus“ ab und erklärte die Naturheilkunde als Alternative zur Schulmedizin. Er sei weder Betrüger noch Kurpfuscher, so Warlies weiter, er verstehe sich auf seine Heilmethoden und wolle niemanden um sein Geld bringen.
Der Streit um „richtiges“ und „falsches“ Heilen, der sich in Warlies’ Verteidigungsschrift spiegelt, ist so alt wie das Heilen selbst. Seit dem Mittelalter gab es ein Nebeneinander von „Schulmedizin“ und „Laienheilkunde“. Eine wirkliche Konkurrenz für approbierte Ärzte stellten die Laienheilkundigen beispielsweise in Baden und Württemberg allerdings erst nach der Aufhebung des allgemeinen Kurierverbots (1872) dar. Seitdem durften auch Laien gewerbsmäßig als Heiler tätig sein.
Der erste „offizielle“ Laienheilkundige in Freiburg war der Magnetopath Johann Kohler (1866–1948), der 1901 seine Praxis in der Konradstraße eröffnete und von 1903 bis 1943 in der Turnseestraße 55 praktizierte. Kohler folgten weitere Magnetopathen, die sich in Freiburg niederließen. 1910 verzeichnete das Freiburger Adressbuch 13 Namen unter dieser Kategorie. Der sogenannte Animalische Magnetismus ging auf den Mesmerismus zurück. Durch magnetische Striche wurde, so die Erklärung, die Energie im menschlichen Körper wieder in Fluss gebracht. Zeitgleich eröffneten eine Reihe von Naturheilkundigen ihre Praxen. Die erste war Wjiera von Bojanowski (1868–1952) in der Maltererstraße 7. Die Naturheilkunde beruht auf den Selbstheilungskräften des Körpers. Sie „schafft diesen freie Bahn, kurbelt sie individuell an, verkürzt dadurch Leiden, Arbeitsunfähigkeit usw., verhütet endlose Kosten, Sorgen, zahlreiche Ausgänge in Siechtum und vorzeitigen Tod“, wie Curt W. Warlies ausführte.
In der Weimarer Republik nahm die Zahl der Laienheilkundigen in Freiburg zu. 1927 gab es 23 Naturheilkundige und Magnetopathen. Dies war beachtlich im Verhältnis zur Anzahl der Ärzte vor Ort (146) sowie im Vergleich mit anderen Städten wie etwa Heidelberg, wo 1927 sechs Laienheilkundige auf 108 Ärzte kamen. Die Gründung einer privaten Krankenkasse für Volksheilbewegung und die Veröffentlichung des Leistungsverzeichnisses für Heilpraktiker 1926, das den Krankenkassen als Grundlage für die Kostenerstattung diente, begünstigten die Entwicklung.
Der ausschlaggebende Grund für den Zuwachs war jedoch die von den Zeitgenossen konstatierte „Krise der Medizin“. Der Freiburger Arzt Adolf Albrecht Friedländer (1870–1949) fasste diese in einem Artikel in der Zeitschrift Gesundheitslehrer 1926 zusammen: „In letzter Zeit hörten und lasen wir immer wieder: ‚Der Ärztestand ist abgesunken; er genießt und verdient kein Vertrauen.’ […] Wir hörten und lasen auch zur Genüge, dass die Hochschulen wenig taugen, dass die Schulmedizin abgewirtschaftet habe, dass die Ärzte ihre Kranken vergifteten, Helfershelfer der chemischen Großindustrie seien.“ Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Schulmedizin an Ansehen verloren, da sie sich zunehmend an den Naturwissenschaften orientiert hatte. Der ärztliche Blick hatte sich auf das kranke Organ verengt, anstatt den Menschen und seinen körperlichen Zustand insgesamt in den Blick zu nehmen.
Die Nationalsozialisten standen der alternativen Medizin zwar positiv gegenüber. Im Rahmen der „Neuen Deutschen Heilkunde“ sollten die verschiedenen Praktiken der Laienheilkunde allerdings nicht gefördert, sondern vielmehr in die Schulmedizin integriert werden. Der Beruf des Heilpraktikers sollte auf lange Sicht aussterben. Kurz nach der „Machtergreifung“ wurden deshalb die Laienverbände im „Heilpraktikerbund Deutschland“ gleichgeschaltet. Das Heilpraktikergesetz von 1939 machte die Mitgliedschaft zur Pflicht. Heilpraktiker durfte nur noch werden, wer zuvor als Arzt gewirkt hatte; die Ausbildungsstätten für Laienheilkunde wurden verboten.
Langfristig hätte das Gesetz sicher seine volle Wirkung entfalten können. Kurzfristig jedoch gab es eine Reihe von Zwischenlösungen. Mittelfristig wurde dieser Prozess durch das Ende des Dritten Reichs unterbrochen und das Gesetz zur Grundlage für den heute rechtsgültigen Beruf des Heilpraktikers.
von Helena Pantelidis und Sven Gallinat
Friedländer, Adolf Albrecht: Volksgesundheit und Kurpfuschertum (oder: Eine Krise der Volksgesundheit), in: Gesundheitslehrer 29 (1926), H. 12, S. 215–220.
Jütte, Robert: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, München 1996.
Warlies, Curt W.: Geschäftsgebaren des Naturheilkundigen Curt Warlies in Freiburg, Freiburg im Breisgau 1926 (Stadtarchiv Freiburg, C4/XII/09/14).